Man kann mit einem solchen Bedürfnis im Herzen durch ganz Deutschland laufen, zumal durch alle Universitäten, und wird nicht finden, was man sucht; bleiben doch viel niedrigere und einfachere Wünsche hier unerfüllt. In der andern Hälfte lebte eine ungestüme Sehnsucht; wir verstehen sie, wenn wir hören, daß er sich mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des großen Stifters der la Trappe, Rancé, abwandte, unter den Worten: »das ist Sache der Gnade.« Denn der Genius sehnt sich tiefer nach Heiligkeit, weil er von seiner Warte aus weiter und heller geschaut hat als ein andrer Mensch, hinab in die Versöhnung von Erkennen und Sein, hinein in das Reich des Friedens und des verneinten Willens, hinüber nach der andern Küste, von der die Inder sagen. Denn so hängt die modische Gier nach der schönen Form mit dem häßlichen Inhalt des jetzigen Menschen zusammen: jene soll verstecken, dieser soll versteckt werden. Thus Spake Zarathustra, Friedrich Nietzsche, Modern Library, Hardcover. Genügt es dir? Nun sehe er zu, daß er sich nicht unterjochen lasse, daß er nicht gedrückt und melancholisch werde. Jener ungeheure Schwarm, welcher sich auf dem ersten Wege zu seinem Ziele drängt, versteht darunter Einrichtungen und Gesetze, vermöge deren er selbst in Ordnung aufgestellt wird und vorwärts geht, und durch welche alle Widerspenstigen und Einsamen, alle nach höheren und entlegneren Zielen Ausschauenden in Bann getan werden. Jetzt schon wird der einzelne, welcher jenen neuen Grundgedanken der Kultur verstanden hat, vor einen Kreuzweg gestellt; auf dem einen Wege gehend ist er seiner Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Belohnungen nicht fehlen lassen, mächtige Parteien werden ihn tragen, hinter seinem Rücken werden ebenso viele Gleichgesinnte, wie vor ihm stehen, und wenn der Vordermann das Losungswort ausspricht, so hallt es in allen Reihen wider. Zudem ist es ein quälerisches, gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Es scheint eine Ungereimtheit, daß der Mensch eines andern Menschen wegen da sein sollte; »vielmehr aller andern wegen, oder wenigstens möglichst vieler!« O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden zu lassen, wo es sich um Wert und Bedeutung handelt! Niemand, der wahre Freunde hat, weiß was wahre Einsamkeit ist, und ob er auch die ganze Welt um sich zu seinen Widersachern hätte. Man schämt sich ordentlich, solche heiteren Zeitgenossen zu haben, weil sie die Zeit und uns Menschen in ihr bei der Nachwelt bloßstellen. Das aber, was der Wirkung und Fortpflanzung seiner Lehre sich von Anbeginn widersetzte, was endlich[347] auch jene Wiedergeburt des Philosophen mit allen Mitteln vereiteln will, das ist, kurz zu reden, die Verschrobenheit der jetzigen Menschennatur: weshalb alle werdenden großen Menschen eine unglaubliche Kraft verschwenden müssen, um sich nur selbst durch diese Verschrobenheit hindurch zu retten. Wie, wenn er nun gar eines Tages fühlte: heute kann ich nichts denken, es fällt mir nichts Gescheites ein – und trotzdem müßte er sich hinstellen und zu denken scheinen! Denn wir wissen, was die Kultur ist. Und überhaupt: beraubt er sich nicht seiner herrlichsten Freiheit, seinem Genius zu folgen, wann dieser ruft und wohin dieser ruft? In diesem Hin und Her zwischen Christlich und Antik, zwischen verschüchterter oder lügnerischer Christlichkeit der Sitte und ebenfalls mutlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei; die vererbte Furcht vor dem Natürlichen und wieder der erneute Anreiz dieses Natürlichen, die Begierde irgendwo einen Halt zu haben, die Ohnmacht seines Erkennens, das zwischen dem Guten und dem Besseren hin und her taumelt, alles dies erzeugt eine Friedlosigkeit, eine Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie verurteilt, unfruchtbar und freudelos zu ein. Dann fragte ich mich wohl: welches wären wohl die Grundsätze, nach denen er dich erzöge? Wer wird das Bild des Menschen aufrichten, während alle nur den selbstsüchtigen Wurm und die hündische Angst in sich fühlen und dergestalt von jenem Bilde abgefallen sind, hinab ins Tierische oder gar in das Starr-Mechanische? Nun sehe man aber darauf hin, was aus alle diesem angesammelten Gewölk entsteht – gewiß kein Blitz! Was ihr dagegen in euch habt, ist ein weichliches breiiges Material; macht damit was ihr wollt, formt elegante Puppen und interessante Götzenbilder daraus – es wird auch hierin bei Richard Wagners Wort verbleiben: »der Deutsche ist eckig und ungelenk, wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen, wenn er in das Feuer gerät.« Und vor diesem deutschen Feuer haben die Eleganten allen Grund, sich in acht zu nehmen, es möchte sie sonst eines Tages fressen, samt allen ihren Puppen und Götzenbildern aus Wachs. Wo ist eigentlich alles Nachdenken über sittliche Fragen hingekommen, mit welchen sich doch jede edler entwickelte Geselligkeit zu allen Zeiten beschäftigt hat? Der Künstler und der Philosoph sind Beweise gegen die Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Mitteln, ob sie schon den vortrefflichsten Beweis für die Weisheit ihrer Zwecke abgeben. Um so mehr strengte ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen, dessen großes Testament ich zu lesen hatte und der nur solche zu seinen Erben zu machen verhieß, welche mehr sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und Zöglinge. Schopenhauer als Erzieher (German Edition) (German) Paperback – October 23, 2017 by Friedrich Wilhelm Nietzsche (Author) See all formats and editions Hide other formats and editions. unmittelbar als Mensch, und nicht nur als Lehrer oder Ge-lehrter, wie Schopenhauer. Wahrlich, jeder gewöhnliche Erdensohn hat das Recht, mit Groll auf einen solchermaßen Begünstigten hinzusehn: nur mag ihn ein Gott davor bewahren, daß er[351] nicht selbst so begünstigt, das heißt so furchtbar verpflichtet werde. Ich nenne viertens die Selbstsucht der Wissenschaft und das eigentümliche Wesen ihrer Diener, der Gelehrten. Denn das ist die eigentümliche Arbeit aller großen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maß, Münze und Gewicht der Dinge zu sein. Auch er will alles erkennen, aber er will es anders als der Goethesche Mensch, nicht einer edlen Weichlichkeit zuwillen, um sich zu bewahren und an der Vielheit der Dinge zu ergötzen; sondern er selbst ist sich das erste Opfer, das er bringt. Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr größer als die, daß er ein Philister werde und dem Teufel verfalle – nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen. Ohne Zweifel ist man jetzt auf der Seite der einzelnen Wissenschaften logischer, behutsamer, bescheidner, erfindungsreicher, kurz,[358] es geht dort philosophischer zu als bei den sogenannten Philosophen: so daß jedermann dem unbefangnen Engländer Bagehot zustimmen wird, wenn dieser von den jetzigen Systembauern sagt: »Wer ist nicht fast im voraus überzeugt, daß ihre Prämissen eine wunderbare Mischung von Wahrheit und Irrtum enthalten und es daher nicht der Mühe verlohnt, über die Konsequenzen nachzudenken? Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt. Man gewöhne sich aber nur erst daran, jede Erfahrung in ein dialektisches Frage- und Antwortspiel und in eine reine Kopfangelegenheit zu übersetzen: es ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit der Mensch bei einer solchen Tätigkeit ausdorrt, wie bald er fast nur noch mit den Knochen klappert. Dabei muß sein Tun zu einem andauernden Leiden werden; aber er weiß, was auch Meister Eckhard weiß: »das schnellste Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.« Ich sollte denken, es müßte jedem, der sich eine solche Lebensrichtung vor die Seele stellt, das Herz weit werden und in ihm ein heißes Verlangen entstehen, ein solcher Schopenhauerscher Mensch zu sein: also für sich und sein persönliches Wohl rein und von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verächtlichen Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen, hoch emporgehoben über griesgrämige und verdrießliche Betrachtung, sich selbst immer als erstes Opfer der erkannten Wahrheit preisgebend, und im Tiefsten von dem Bewußtsein durchdrungen, welche Leiden aus seiner Wahrhaftigkeit entspringen müssen. Dies und jenes bewies Schopenhauer – und wird es von Tag zu Tage mehr beweisen.[365]. 1. Warum will er so stark das Gegenteil, nämlich gerade das Leben spüren, das heißt am Leben leiden? Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. Doch gibt es Augenblicke, wo man gerade daran denken und erinnern muß: nämlich gerade dann, wenn der Gelehrte in seiner Bedeutung für die Kultur in Frage kommt. Dieses ewige Werden ist ein lügnerisches Puppenspiel, über welchem der Mensch sich selbst vergißt, die eigentliche Zerstreuung, die das Individuum nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit, welches das große Kind Zeit vor uns und mit uns spielt. Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuld auf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenossen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, daß er seine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbeachtung seiner Zeitgenossen verteidigen müsse; denn es gibt eine Art Inquisitionszensur, in der es die Deutschen nach Goethes Urteil weit gebracht haben; es heißt: unverbrüchliches Schweigen. Wenn jeder große Mensch auch am liebsten gerade als das echte Kind seiner Zeit angesehn wird und jedenfalls an allen ihren Gebresten stärker und empfindlicher leidet als alle kleineren Menschen, so ist der Kampf eines solchen Großen gegen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich selbst. 4/2000 "Friedrich Nietzsche zum 100.Todestag", S. 102-130 Ergänzung vom 07.01.2007 um das Stück Nr. Der Mensch Goethes ist, wie ich sagte, der beschauliche Mensch im hohen Stile, der nur dadurch auf der Erde nicht verschmachtet, daß er alles Große und Denkwürdige, was je da war und noch ist, zu seiner Ernährung zusammenbringt und so lebt, ob es auch nur ein Leben von Begierde zu Begierde ist; er ist nicht der tätige Mensch: vielmehr, wenn er an irgendeiner Stelle sich in die bestehenden Ordnungen der Tätigen einfügt, so kann man sicher sein, daß nichts Rechtes dabei herauskommt – wie etwa bei allem Eifer, welchen Goethe selbst für das Theater zeigte – vor allem daß keine »Ordnung« umgeworfen wird. Deshalb entstand nicht nur an einer Stelle der Erde die Vermutung, daß die Seelen schuldbeladner Menschen in diese Tierleiber gesteckt seien, und daß jenes auf den nächsten Blick empörende sinnlose Leiden vor der ewigen Gerechtigkeit sich in lauter Sinn und Bedeutung, nämlich als Strafe und Buße auflöse. Gewiß,[317] er vernichtet sein Erdenglück durch seine Tapferkeit, er muß selbst den Menschen, die er liebt, den Institutionen, aus deren Schoße er hervorgegangen ist, feindlich sein, er darf weder Menschen noch Dinge schonen, ob er gleich an ihrer Verletzung mitleidet, er wird verkannt werden und lange als Bundesgenosse von Mächten gelten, die er verabscheut, er wird, bei dem menschlichen Maße seiner Einsicht, ungerecht sein müssen, bei allem Streben nach Gerechtigkeit: aber er darf sich mit den Worten zureden und trösten, welche Schopenhauer, sein großer Erzieher, einmal gebraucht: »Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf. – Zweitens Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit großer[337] Myopie für die Ferne und das Allgemeine. Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden umfängt uns beim ersten Tone seiner Stimme; es geht uns ähnlich wie beim Eintritt in den Hochwald, wir atmen tief und fühlen uns auf einmal wiederum wohl. Nietzsche stellte seine 3. Wer zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten läßt, wer also, im weitesten Sinne, zur Historie geboren ist, wird die Dinge nie zum ersten Male sehen und nie selber ein solches erstmalig gesehenes Ding sein; beides gehört aber bei einem Philosophen ineinander, weil er die meiste Belehrung aus sich nehmen muß und weil er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient. Wie muß es ihm hinderlich werden, wenn die Menschheit, die er zunächst sieht, gerade eine schwächliche und von Würmern zerfressene Frucht ist! Pages: 249–271. Es sieht oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer. Wer wird nun, bei solchen Gefahren unserer Periode, der Menschlichkeit, dem unantastbaren heiligen Tempelschatze, welchen die verschiedensten Geschlechter allmählich angesammelt haben, seine Wächter- und Ritterdienste widmen? Aber überhaupt: was ist uns durch alle diese Betrachtungen aufgegangen? Dort verbergen sich die Einsamen: aber dort auch lauert die größte Gefahr der Einsamen. Deine wahren Erzieher und Bildner verraten dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. Ein anderer wird jene große Freiheit als Überhebung deuten: auch er hat recht, weil er selber mit jener Freiheit nichts Rechtes anfangen und sich allerdings sehr überheben würde, falls er sie für sich begehrte. Und wer je gefühlt hat, was das in unsrer Tragelaphen-Menschheit der Gegenwart heißen will, einmal ein ganzes, einstimmiges, in eignen Angeln hängendes und bewegtes, unbefangenes und ungehemmtes Naturwesen zu finden, der wird mein Glück und meine Verwunderung verstehen, als ich Schopenhauer gefunden hatte: ich ahnte in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben, den ich so lange suchte. Die Welt, in die sie jetzt eintreten, ist mit Flausen eingehüllt; das brauchen wahrhaftig nicht nur religiöse Dogmen zu sein, sondern auch solche flausenhafte Begriffe wie »Fortschritt«, »allgemeine Bildung«, »National«, »moderner Staat«, »Kulturkampf«; ja man kann sagen, daß alle allgemeinen Worte jetzt einen künstlichen und unnatürlichen Aufputz an sich tragen, weshalb eine hellere Nachwelt unserer Zeit im höchsten Maße den Vorwurf des Verdrehten und Verwachsenen machen wird, mögen wir uns noch so laut mit unserer »Gesundheit« brüsten.